Evelyn Glennie: zur Person


Evelyn Glennie stammt aus dem schottischen Aberdeen. Seit ihrer Kindheit ist sie hochgradig hörgeschädigt. Sie kann spezifische Laute in einem ruhigen Umfeld diffus wahrnehmen (schellt zum Beispiel das Telefon, nimmt sie es als eine bestimmte Art von Knattern oder Knistern wahr); zum Verstehen von Gesprochenem ist sie jedoch auf Lippenlesen angewiesen.

Im Alter von 12 Jahren, als sich Evelyns Gehör hochgradig verschlechterte, begann sie, Unterricht auf Kesselpauke und Schlagzeug zu nehmen. Sie verbrachte viel Zeit damit, mit Hilfe ihres Schlagzeug-Lehrers ihre Fähigkeiten im Spüren von Vibrationen zu verfeinern. Evelyn pflegte mit den Händen gegen die Wand des Klassenzimmers zu stehen, während Ron Forbes, ihr Lehrer, auf der Pauke spielte, die eine Menge Vibrationen erzeugt.

Im Laufe der Zeit brachte es Evelyn fertig, die Tonhöhen zu unterscheiden, indem sie das «wo am Körper sie den Ton spürte» mit dem «perfekten Gehörsinn», den sie vor dem Verlust des Gehörs hatte, in Verbindung brachte: Die tieferen Laute fühlt sie hauptsächlich in ihren Füssen und Beinen und die höheren an einzelnen Stellen des Gesichts, des Nackens und der Brust. Ihr akustisches Bewusstsein während eines Konzerts ist hervorragend; Akustik bringt sie manchmal mit der «Dicke» der Luft in Verbindung.

1982 begann Evelyn ihr Musikstudium an der Royal Academy of Music, wo sie bald mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde. Seit ein paar Jahren spielt die «First Lady of solo percussion» nebst ihren mehr als 1000 Schlaginstrumenten auch den grossen Highland-Dudelsack, um das Instrument und seine Musik einem grossen Publikum nahe zu bringen. Zur Vertiefung ihrer Kenntnisse über die weltweit verschiedenen Musikkulturen arbeitete sie mit europäischen und indischen Musikern zusammen, spielte mit Gamelan-Orchestern in Indonesien sowie Samba-Gruppen in Brasilien.

Heute tritt Evelyn Glennie mit den renommiertesten Orchestern und Dirigenten der Welt auf. Ihre internationalen Konzertarrangements führen sie jährlich in mehr als zwanzig verschiedene Länder auf allen fünf Kontinenten. Häufig wartet sie mit Uraufführungen auf.

Nebst ihrer Tätigkeit als Leiterin von Meisterklassen, die z.T. im Fernsehen übertragen werden, komponiert und spielt Evelyn zusammen mit ihrem Mann Greg Malcangi Musik für Film und Fernsehen; ihre Filmmusik für das Fernsehdrama «Trial and Retribution» wurde für einen BAFTA Preis nominiert und «The Trench» am diesjährigen Filmfestival in Cannes gezeigt. Für ihre musikalischen Darbietungen erhielt Evelyn 1988 einen Grammy,1994 wurde sie
mit einem CD Award ausgezeichnet und 1997 für einen Grammy als beste Solistin nominiert.

Evelyn trat auch in Erscheinung als Autorin eines Perkussionslehrgangs für Primarschüler und Leiterin von Workshops für Kinder. Die zierliche, powervolle Lady hat mehr als zehn ganz verschiedenartige CDs auf den Markt gebracht und gilt heute als unbestrittene Nummer 1 der Solo-Perkussionisten.

1990 ist eine englische Autobiografie erschienen mit dem Titel «Good Vibrations» und das britische Fernsehen hat bisher zwei bedeutende Dokumentarfilme über ihr Leben gedreht.

Evelyns Freizeitbeschäftigungen sind Malen, Kunst und Sammeln von Antiquitäten, alten und neuen Musikinstrumenten. Ihre Taubheit ist Evelyn nicht mehr oder weniger wichtig als die Tatsache, dass sie eine braunäugige, 1 m 58 cm grosse Frau ist; deshalb wird auch in keiner Werbung, in keinem Booklet von ihrer Hörbehinderung gesprochen, was nicht heisst, dass dies kein Thema für sie wäre; sie setzt sich u.a. für Schulen mit gehörgeschädigten Kindern ein und hat, um ihre Art des Hörens auf zu zeigen, mit ihrem Mann zusammen eine interessante und vielschichtige Website geschaffen: Evelyn Glennie hat erlebt, dass ihre Behinderung gute Schlagzeilen liefert, doch sie will, dass der Konzertbesucher das Bild, das der Komponist szenisch beschreibt und welches sie als Musikerin den Zuhörerinnen und Zuhörern malt, vermittelt erhält, sich daran erfreut und unterhalten wird. Sie will nicht, dass sich der Zuhörer oder die Zuhörerin nach dem Konzert einzig und allein darüber wundert, wie und warum eine taube Musikerin Schlagzeug spielen kann; denn dann hat sie als Musikerin versagt. Ihr Ziel ist die Kommunikation: «Eigentlich bin ich ein 'sound creator', eine Tonschöpferin; jemand, der nicht bloss Perkussionsinstrumente spielt, sondern in erster Linie eine Musikerin und Kommunikationsexpertin ist, die Grenzen durchbricht.»

(zitiert nach: Musik&Theater, August/September 1999)