Generation Kartoffelsack

Die Schweizer Kinder werden immer dicker. Diese Erkenntnisse gewann Michael Zimmermann vom ETH-Labor für Humanernährung in Zürich in seiner Gewichts-Studie, die im American Journal of Clinical Nutrition veröffentlicht wird. Vor zwei Jahren wog und vermass er 2.431 Primarschüler zwischen sechs und zwölf Jahren aus städtischen wie ländlichen Gemeinden in der Schweiz. Aus Körpergrösse und Gewicht wurde der Body-Mass-Index (BMI) errechnet und mit den Soll-Werten für die jeweiligen Altersgruppen verglichen. Das Ergebnis:
Jedes fünfte Kind in der Schweiz ist übergewichtig. Fettleibigkeit wurde nach internationalen Vorgaben bei jedem 25-igsten jungen Probanden diagnostiziert. Nach den strengeren US-Standards ist bereits jeder 13. Knabe und jedes 17. Mädchen in der Schweiz krankhaft fett. Der Vergleich mit Daten aus der Vergangenheit zeigt: Die Fetttendenz steigt - und zwar drastisch. Der Anteil der Übergewichtigen hat sich in 20 Jahren unter den Schweizer Kindern verdreifacht, die Zahl der Fettleibigen schnellte sogar um das Sechsfache in die Höhe.

An der Spitze liegt die USA

Die Ergebnisse sind dramatisch, die Folgen für das Gesundheitswesen kaum absehbar. Und: In der Realität ist der Anteil der Fettleibigen womöglich noch um einiges höher.
Viele Lehrer berichten, dass gerade die extrem dicken Kinder nicht an der Studie teilnahmen. Sie wollten sich vor den Augen ihrer Mitschüler nicht ausziehen. Die Teilnehmerquote der Zimmermann-Studie lag bei 76,4 Prozent. Die Resultate der ETH-Untersuchung sind daher wahrscheinlich noch zu harmlos. Beim Regionen-Vergleich zeigte sich, dass die
Basler und Berner Kinder etwas übergewichtiger sind, als die Zürcher und Ostschweizer. Signifikante Unterschiede ergaben sich jedoch weder geografisch noch zwischen den Geschlechtern. International schliesst die Schweiz nun auch in Sachen Übergewicht auf. In Frankreich und Grossbritanien gibt es ähnlich alarmierende Zunahmen. Ungeschlagen auf Rang Eins liegt auf der Skala der Dicken nach wie vor die USA: Dort ist bereits jedes vierte Kind übergewichtig und jedes achte fettleibig - in Alabama sind es bereits 25 Prozent.

TV-Konsum macht dick

Dass gerade in den USA der Anteil an fettleibigen Kindern am höchsten ist, verwundert nicht. So vereinigt der "American way of life" gleich mehrere Ursachen für Übergewicht: Fettreiches "Junk-Food" in überdimensionierten Portionierungen und Süssgetränke bei gleichzeitig minimaler Bewegung und hohem Fernsehkonsum. Eine US-Studie zeigt, dass mit jeder Stunde vor dem TV das Risiko für Übergewicht steigt. Unter den Kindern, die regelmässig drei Stunden pro Tag in die Röhre klotzen, sind laut der Studie 20 Prozent zu dick. Doch nicht nur TV-Konsum macht die Kinder zu Bewegungsmuffeln. Auch Computer, Rolltreppen, Aufzüge und Autos reduzieren die körperliche Bewegung auf ein Minimum.

Prävention von Kindesbeinen an

Können Straf- oder Abschreckungssteuer auf Junk-Food und Süssgetränke die Essgewohnheiten ändern? Wohl kaum, sind sich Experten einig. Erfolgversprechender scheinen individuelle Massnahmen im Alltag zu sein. So unterstützen etwa Organisationen wie die Schweizerische Adipositas-Stiftung oder Spezialprojekte wie der "Club Minu" des Migros übergewichtige Kinder dabei, ihr eigenes Ernährungs-, Bewegungs- und Freizeitverhalten besser in den Griff zu bekommen.
Dass die Kinder zu dick seien, solle bei Interventions-Massnahmen nicht direkt angesprochen werden, so Zimmermann. "Wir erzeugen damit Essstörungen." Skeptisch ist der Studienleiter auch wenn es um das Auslassen von Mahlzeiten geht - wie etwa beim "Dinner cancelling". Gemäss Studien würden bei Kindern wiederkehrende Gewichtsschwankungen und kalorienarme Diäten das Risiko für Übergewicht erhöhen. Zudem kann das
Auslassen von Mahlzeiten Kindern das Wachstum verringern oder die Pubertät verzögern. Medikamente oder operative Eingriffe wie Magenverkleinerung sieht Zimmermann nur als letztes Mittel. Die Schlussfolgerung der ETH-Studie lautet daher: Um die Fetttendenz unter den Schweizer Kindern aufzuhalten, muss präventiv interveniert werden. Das bedeutet: Bewegung und gesunde Ernährung bereits für die Jüngsten.

Quelle: Sabine Olff, DocCheck Newsletter vom 2.4.2004
http://www.doccheck.de/newsletter/chde/2004_3/1763.php?random=bc86554fa410e2540d18979c5c125abe